Offizielle Ansprache von Bundespräsident Johann N. Schneider-Ammann vom 18. Februar 2016 anlässlich des Staatsbesuchs des tunesischen Präsidenten Béji Caïd Essebsi

Bern, 18.02.2016 - .

Herr Präsident der Tunesischen Republik,
Meine Herren Minister,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,

Es ist mir eine besondere Ehre, Sie zu einem Zeitpunkt zu empfangen, der für die Geschichte Ihres Landes wegweisend ist. Gegenwärtig befindet sich Tunesien an einem Scheideweg; in diese Phase fallen viele neue Erfahrungen. Gleichzeitig ist es wichtig, sich auf die eigenen historischen und kulturellen Wurzeln zu besinnen, damit die Umwälzungen, die sich in Ihrer Heimat vollziehen, nicht zu einer Woge werden, die alles fortreisst, was sich ihr in den Weg stellt.

Ihrem Staatsbesuch misst die Schweizer Regierung grosse Wichtigkeit bei. Er bietet uns die Gelegenheit, Sie in dieser schwierigen Zeit unserer Hilfe zu versichern und Ihr Land auf dem Weg zu wahrhaftem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu unterstützen. Ich bin deshalb besonders stolz und glücklich, Sie heute willkommen heissen zu dürfen – denn Ihr Besuch darf als historisch bezeichnet werden.

Tatsächlich findet heute der erste Staatsbesuch eines tunesischen Präsidenten in der Schweiz statt.

Tunesien ist für die Schweiz eine besonders glückliche Wahl, wenn es darum geht, die Verbindungen mit dem geografischen Raum und dem Kulturraum, aus dem Sie stammen, zu erneuern: Ihr Land hat Pionierarbeit geleistet und zahlreiche Probleme, die sich während des «Arabischen Frühlings» manifestierten, mit grosser Reife und Weisheit behandelt.

Dazu nur ein, in meinen Augen aber besonders symbolträchtiges, Beispiel. Am 7. Februar 2014 verkündete Ihr Land vor der verfassungsgebenden Nationalversammlung im Bardo-Palast die neue Verfassung. Es ist äusserst bedeutsam, dass diese eine Staatsreligion, den Islam, anerkennt, und in Artikel 6 allen Staatsbürgerinnen- und bürgern gleichzeitig die Glaubensfreiheit zugesteht. Es ist dies ein leuchtendes Beispiel für die Pionierrolle, die Tunesien spielt auf dem Weg zum Rechtsstaat und zur Respektierung der Menschen- und Grundrechte.

Die Parlamentswahlen am 26. Oktober 2014 und die darauffolgende Präsidentschaftswahl im November haben der ganzen Welt die politische Reife vor Augen geführt, die das tunesische Volk erlangt hat. Indem die Tunesierinnen und Tunesier Sie zum Präsidenten der Republik gewählt haben, haben sie die herausragende Rolle gewürdigt, die Sie beim demokratischen Übergang Ihres Landes nach dem Januar 2011 gespielt haben.

Sehr geehrter Herr Präsident, auch in einer alten Demokratie wie jener der Schweiz bleibt der demokratische Prozess eine anspruchsvolle Herausforderung. Eine Demokratie ist nie «abgeschlossen», sie muss sich stets weiterentwickeln. Die Grundwerte der Demokratie müssen von jeder Generation neu entdeckt, gestärkt und vertieft werden.

Das gilt auch für die Rolle der Zivilgesellschaft, und es gilt auch für die Sozialpartnerschaft, d.h. für das Verhältnis zwischen den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerverbänden. In der Schweiz war die Einigkeit zwischen den Sozialpartnern oft wegweisend für mehrheitsfähige politische Lösungen.

Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass Freiheit oder Demokratie ohne eine solide wirtschaftliche Grundlage nicht möglich sind. Insbesondere soll diese Grundlage jungen Menschen die Möglichkeit geben, eine Ausbildung zu machen und einer Beschäftigung nachzugehen; sie soll, mit anderen Worten, eine Perspektive bieten. Fehlt eine solche, führt dies zweifellos zu Verirrungen, die wir beinahe überall auf der Welt beobachten können.

Die Schweiz möchte dazu beitrage, dass in Ihrem Land Perspektiven geschaffen werden. Der Besuch einer Schweizer Wirtschaftsdelegation unter der Führung von Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch im vergangenen Herbst war ein erster Schritt dazu. Ich hoffe, dass sich die damals geknüpften Verbindungen vertiefen. Insbesondere die wirtschaftliche Konsultationsrunde, an der wir morgen teilnehmen, wird dazu Gelegenheit bieten. Ein Besuch beim Lebensmittelhersteller Emmi wird Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, welch zentrale Rolle die Berufsbildung in Unternehmen spielt.

Als ehemaliger Unternehmer hatte ich die Gelegenheit, in einer Maschinenfabrik Hunderte junger Leute auszubilden. Ein solcher Ansatz fördert die Ausbildung junger Menschen, und er kommt der Realwirtschaft zugute. Ich hoffe, dass der Besuch Sie inspirieren wird. Denn in meinen Augen ist die Berufsbildung in Unternehmen der konkreteste und direkteste Weg, um jungen Menschen eine Perspektive zu bieten, sei dies in der Schweiz oder in Tunesien.

Ich weiss, aus Schweizer Sicht ist das einfach gesagt; die Schweiz erfreut sich eines weltweit einmaligen Wohlstands, und sie hat eine lange Erfahrung in der Berufsbildung. Aber die Schweiz hat das alles nicht in einem Tag geschaffen. Es gab eine Zeit, da unser Land wegen des fehlenden Zugangs zum Meer und fehlender Bodenschätze zu den ärmsten in Europa gehörte. Die äusseren Umstände zwischen unseren Ländern unterscheiden sich stark, und die kulturellen und historischen Unterschiede sind offensichtlich.

Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, wie wichtig starke und allgemein anerkannte Institutionen für die Schaffung von Wohlstand und Perspektiven sind. Dass das tunesische Volk den Weg der Demokratie gewählt hat, erfüllt uns mit Hoffnung und verdient unseren Respekt – Respekt, weil dieser Weg nicht immer einfach und gefahrlos sein wird.

Die Zivilgesellschaft hat in Tunesien sowohl bei der Revolution von 2011 als auch während der Transition bis zu den Wahlen des letzten Jahres eine Schlüsselrolle gespielt. Ich bin überzeugt, dass die Zivilgesellschaft im politischen System Tunesiens weiterhin eine Schlüsselrolle wird spielen müssen. Der Bundesrat, das Schweizervolk und ich selber haben Anfang Oktober mit grosser Freude vernommen, dass das Nobelpreis-Komitee die konstruktive Rolle, die die Zivilgesellschaft in Tunesien in jüngster Zeit gespielt hat, ehren will, indem es den Friedensnobelpreis 2015 dem Quartett für den nationalen Dialog in Tunesien verliehen hat.

Herr Präsident, Ihr Staatsbesuch bildet einen neuen Höhepunkt in den bilateralen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, Beziehungen, die fest und von Dauer sind. Ich darf daran erinnern, dass die Schweiz die Unabhängigkeit Tunesiens sehr früh anerkannt und sehr rasch eine Botschaft in Tunis eingerichtet hat. Zu den Anfängen unserer bilateralen Beziehungen gehört auch der offizielle Besuch von Präsident Bourgiba in der Schweiz im Jahre 1957. Die Beziehung zwischen unseren beiden Ländern durchlief aber auch schwierige Momente. Ich denke insbesondere an die Ereignisse im Nachgang zur Ansprache, die der damalige schweizerische Bundespräsident Samuel Schmid 2005 in Tunis gehalten hat. Bei ersten offiziellen Besuch meiner Amtskollegin Simonetta Sommaruga in Tunesien vor dreieinhalb Jahren wurde ihr von zahlreichen tunesischen Gesprächspartnern versichert, dass der damalige schweizerische Bundespräsident mit seinem entschiedenen Plädoyer für die Meinungsäusserungsfreiheit beigetragen habe zur Saat, aus der die Frucht des Demokratisierungsprozesses hervorgewachsen ist. Das Jahr 2011 kann mit Fug und Recht als historischer Wendepunkt bezeichnet werden. Es hat unseren bilateralen Beziehungen neue positive Impulse und eine neue Dynamik verliehen. Die Schweiz hat den Demokratisierungsprozess ab seiner Geburtsstunde vor bald fünf Jahren begleitet und mit umfangreichen Massnahmen unterstützt, die heute weiterhin andauern und darauf ausgerichtet sind

·         die Demokratie und die Menschenrechte zu fördern,
·         die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen,
·         Fragen der Migration zu erörtern und
·         die Migrantinnen und Migranten wenn nötig zu schützen.

Wir sind stolz auf dieses Engagement an der Seite Tunesiens, und wir werden es fortsetzen.

Herr Präsident, seien Sie versichert, dass die Schweiz willens ist, die engen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu vertiefen. Tunesien, das ist uns bewusst, steht vor grossen Herausforderungen, sei dies im Bereich der Sicherheit, der wirtschaftlichen Entwicklung oder im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Sie können bei diesen grossen Aufgaben auf unsere Unterstützung zählen. Uns ist insbesondere daran gelegen, unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen weiterzuentwickeln und die Investitionen zu fördern. Deshalb freut es mich ganz besonders, dass aus Anlass Ihres Besuchs ein «Groupe d‘amitié» Schweiz-Tunesien ins Leben gerufen werden konnte.

Herr Präsident, es ist eine grosse Freude und eine grosse Ehre für die Schweiz, dass Sie heute unser Gast sind.


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